Physiknobelpreis 1994: Bertram Neville Brockhouse — Clifford Glenwood Shull

Physiknobelpreis 1994: Bertram Neville Brockhouse — Clifford Glenwood Shull
Physiknobelpreis 1994: Bertram Neville BrockhouseClifford Glenwood Shull
 
Der Kanadier und der Amerikaner erhielten den Nobelpreis für ihre Entwicklung von Techniken zur Streuung der ungeladenen Kernteilchen (Neutronen).
 
 Biografien
 
Bertram Neville Brockhouse, * Lethbridge (Kanada) 15. 7. 1918; zuerst Radiotechniker und Elektroniker, 1950 Promotion, 1950-62 Chalk River Laboratory in Kanada, 1962-84 Professor an der McMaster University in Hamilton (Ontario), 1984 Emeritierung.
 
Clifford Glenwood Shull, * Pittsburg (USA) 23. 9. 1915✝ Medford (Massachussetts) 31. 3. 2001; 1941 Promotion, Physiker in der Industrie, 1946-55 leitender Wissenschaftler im Oak Ridge National Laboratory bei Knoxville (Tennessee), 1955-86 Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge, 1980 kurze Zeit am Hahn-Meitner-Institut in Berlin, Arbeiten über magnetische Kristallographie, Emeritierung 1986.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Die Preisträger gelten als die Pioniere der Neutronenforschung. Ihre Arbeiten zur elastischen und inelastischen Neutronenstreuung haben sie schon in den 1940er- und 1950er-Jahren geleistet. Die Auszeichnung kam für die Forscher überraschend, da beide, mehr als 40 Jahre nach der gewürdigten Leistung, bereits emeritiert waren.
 
 Voraussetzungen
 
Die Eigenschaften der Materie werden im Wesentlichen von Struktur und Verhalten der elementaren Bausteine, der Atomkerne und der Elektronen, bestimmt. Das Beugungsmuster von Wellen, die mit Atomen wechselwirken und deren Länge dem interatomaren Abstand ähnelt, eignet sich sehr gut, um atomare Strukturen zu offenbaren. Prinzipiell geht das mit Röntgenstrahlen und auch mit Elektronen- und Neutronenstrahlen. Nach Louis de Broglie (Nobelpreis 1929) können bewegte Materieteilchen als fortschreitende Wellen beschrieben werden, deren Wellenlänge von ihrer Masse und Geschwindigkeit abhängt. Weitere Vorarbeiten lieferten Max von Laue (Nobelpreis 1914), Walther Friedrich und Paul Knipping, als sie 1912 nachwiesen, dass Röntgenstrahlen Wellennatur besitzen und am Raumgitter eines Kristalls gebeugt werden. Der englische Physiker William Henry Bragg entwickelte daraufhin zusammen mit seinem Sohn William Lawrence Bragg (gemeinsam Nobelpreis 1915) den Röntgendiffraktometer, ein Instrument zur Kristallstrukturanalyse. Es war ihnen gelungen, mathematisch zu beschreiben, wie Röntgenstrahlen an den Netzebenen eines Kristalls gespiegelt werden und sich konstruktiv überlagern und bündeln. Sie begründeten mit dieser Leistung die Röntgenstrukturanalyse. 1927 entdeckten Clinton Davisson und George Thomson (gemeinsam Nobelpreis 1937) bei der Elektronenbestrahlung von Kristallen Interferenzerscheinungen. Damit war bewiesen, dass sich Materiewellen zur Kristallanalyse grundsätzlich eignen. Trotz aller Fortschritte blieb die Strukturanalyse der Materie mangelhaft. Röntgenstrahlen streuen vor allem an den Elektronen in der Atomhülle. Sie liefern deshalb Erkenntnisse über die Verteilung der elektrischen Ladungen. Elektronen werden wegen ihrer negativen Ladung vom elektrischen Feld zwischen Atomkern und Kernhülle beeinflusst. Sie dringen nicht sehr tief in einen Festkörper ein und eignen sich deshalb vor allem für Oberflächenanalysen.
 
 Neutronen gehen in die Tiefe
 
Neutronenstrahlen sind hervorragend als Sonden zur Strukturanalyse geeignet. Doch den Physikern standen zunächst nur schwache natürliche Neutronenstrahler zur Verfügung. Das änderte sich, als sie nach 1945 in den USA Zugriff auf die ersten, ursprünglich für militärische Zwecke gebauten Kernreaktoren mit ihren viel höheren Neutronenflüssen bekamen. Sofort bildete sich am graphitmoderierten Reaktor »Clinton Pile« vom Oak Ridge National Laboratory in den USA eine Gruppe, die die Möglichkeiten untersuchte, praktikable Neutronenstrahler zu entwickeln. Shull gesellte sich dazu und wurde schnell ihr führender Kopf. Er untersuchte die elastische Neutronenstreuung. Nach den von Bragg beschriebenen Bedingungen werden die als Welle betrachteten Neutronen am regelmäßigen Kristallgitter in bestimmte Richtungen gespiegelt. Shull setzte einen solchen Kristall zwischen den Neutronenstrahl aus dem Reaktor und der Probe, die er untersuchen wollte. Trafen die Strahlen unter einem bestimmten Winkel auf den Kristall, konnte er aus den Reflexionen Neutronen einer bestimmten Wellenlänge auswählen.
 
Mit diesen »monochromatischen« Neutronen bestrahlte er seine Proben. Die meisten Neutronen behielten beim Durchlaufen der Proben ihre Bewegungsenergie und Wellenlänge bei. Es fand also eine elastische Streuung statt. Der monochromatische Strahl wurde am Probenkristall in bevorzugte Richtungen gebeugt (Diffraktion). Die gebeugten Neutronen zählte er mit einem rotierenden Detektor. Das Diffraktionsmuster, das er erhielt, offenbarte die relativen Atompositionen in der Probe. Shull hat mit diesem Experiment gezeigt, wie man mit Neutronen Atomstrukturen bestimmen kann.
 
Brockhouse ging 1950 an das Chalk River Laboratory in der Nähe von Ottawa, um am dortigen Reaktor die inelastische Neutronenstreuung zu studieren, bei der Neutronen Energie an den Festkörper abgeben. Für die Entwicklung der Neutronenspektroskopie für kondensierte Materie wurde Brockhouse ausgezeichnet. Er nutzte einen rotierenden Kristall, um einen gebündelten monoenergetischen Neutronenstrahl zu erzeugen, den er auf eine ebenfalls rotierende Probe richtete. Die in die Proben — Blei, Aluminium, Graphit und Diamant — eindringenden Neutronen regen durch inelastische Streuung die Gitterschwingung an oder reduzieren sie. Die austretenden Neutronen haben unterschiedliche Energieniveaus, die sich an einem dritten rotierenden Kristall messen lassen.
 
 Phononen und Magnonen
 
Ziel der Arbeit war es, die so genannte Dispersionsrelation der Phononen zu ermitteln. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass die schwingenden Gitter ein Quantenfeld aufbauen. So wie die Photonen die Feldquanten des elektromagnetischen Felds sind, sind die Phononen die Feldquanten des schwingenden Gitters. Neben zahlreichen anderen Arbeiten gelang es Brockhouse auch, die Dispersionsrelation von Magnonen, das sind die Feldquanten einer Magnetisierungswelle, zu bestimmen.
 
Die beiden Forscher haben ein Arbeitsfeld eröffnet, dessen Bedeutung stetig zunimmt. Neutronenhochflussreaktoren sind Zentren absoluter Spitzenforschung in vielen Bereichen, von der Festkörperphysik bis zur Tumortherapie. Neutronen haben nahezu ideale Eigenschaften, um sie als Sonden einzusetzen. Ihre Bewegungsenergie und damit ihre Wellenlänge lässt sich variieren. Sie sind elektrisch neutral und durchleuchten deshalb zerstörungsfrei auch dicke Proben. Ihr magnetisches Moment erlaubt die Erforschung magnetischer Eigenschaften auf mikroskopischer Ebene. Mit Neutronen lassen sich Isotope, vor allem Wasserstoff und Deuterium, unterscheiden. Dies kann beispielsweise in biologischen oder geologischen Strukturen zur Analyse genutzt werden.
 
In den 1970er-Jahren wandte sich Brockhouse verstärkt philosophischen Fragen der Physik zu. »Doch nicht viel von dem, was ich suchte, wurde gefunden und nicht viel davon publiziert«, so sein Resümee. Er wünschte sich, der Nobelpreis möge ihn motivieren, noch genauer nachzudenken.
 
U. Schulte

Universal-Lexikon. 2012.

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